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Unternehmenstheater als Lehrmethode zur Simulation betrieblicher Entscheidungssituationen und zur Entwicklung betrieblicher Rollenverständnisse

  

Hintergrund des Lehrkonzeptes

Im Rahmen der Anwendung üblicher Lehrmethoden werden Studierende der anwendungsorientierten Wissenschaften – wie etwa der Betriebswirtschaftslehre (BWL) – abstrakt mit fachlichen Problemen und Problemlösungen der betrieblichen Praxis konfrontiert. Sie erwerben i.d.R. aus einem externen Blickwinkel Fachwissen und lernen, Probleme zu lösen. Aufgrund der nach abgegrenzten Fächern geordneten Modul-Struktur der Hochschul-Curriculi schlüpfen sie dabei allenfalls sequentiell aber nicht simultan in die Rollen betrieblicher Entscheidungsträger, obwohl gerade die funktionsübergreifende, also simultane Lösungserarbeitung (indem Mitarbeiter verschiedener betrieblicher Funktionsbereiche – zeitgleich – zusammen sitzen, um Problemlösungen zu erarbeiten) die Betriebspraxis prägt. Ein vertieftes betriebliches Rollenverständnis kann sich so kaum entwickeln.

Verschärft wird diese Lage speziell in der BWL zudem dadurch, dass durch den nach wie vor sehr verbreiteten – allenfalls durch einzelne Übungen oder case studies angereicherten – sogenannten Frontalunterricht eine Aktivierung der Studierenden, sich eigenständig und praxisorientiert mit betrieblichen Problemen und mit den Rollen einzelner Funktionsträger auseinanderzusetzen, gar nicht oder allenfalls kaum stattfindet. Auch Unternehmensplanspiele schaffen in dieser Hinsicht nur zum Teil Abhilfe, weil sie i.d.R. nicht so sehr auf das Rollenspiel, auf das Rollenverständnis, den Rollenwechsel, sondern üblicher Weise stärker auf das Anwenden von Fachkenntnissen in simulierten Realsituationen ausgerichtet sind.

Insbesondere die Controlling- und die Managementausbildungen – als jeweilige Spezialisierungen der BWL – leiden darunter. Denn wirksame Controller und Manager benötigen aufgrund ihrer ausgeprägten Querschnittsfunktion in der betrieblichen Praxis die Fähigkeit, sich schnell in Rollen anderer Funktionsträger hinein zu versetzen und Probleme aus deren Blickwinkel beurteilen zu können. Diese Fähigkeiten werden jedoch in der Hochschulausbildung gar nicht oder nur rudimentär trainiert.

Dieses Defizit der traditionellen Lehrmethoden versucht die unternehmenstheater-orientierte Lehre – die im Hochschulbereich durch das durchgeführte Projekt offenbar erstmalig ausprobiert wurde; dazu später – zu überwinden, indem die Studierenden im Rahmen von selbstentwickelten und inszenierten Betriebssituationen (die als „offene“ Drehbücher in Teilen vorstrukturiert sind) zum einen Teil betriebliche Entscheidungen konstruieren und auf der Bühne spielerisch erarbeiten müssen (Schauspielergruppe) oder zum anderen Teil die gespielten Rollen und das Schauspielergebnis nach bestimmten Bewertungsschemata kritisch beurteilen (Kritikergruppe).

Ausgehend von solchen vorstrukturierten typischen betrieblichen Problemstellungen, mit denen ein Unternehmens-Mitarbeiter in der Praxis üblicherweise konfrontiert ist, wird eine Spielumgebung etabliert, die den Teilnehmern Rollen zuweist, in denen sie agieren und entsprechende Konflikte lösen und Entscheidungen treffen müssen. 

Beschreibung der Ziele, des Lehrkonzeptes an sich und gemachter Erfahrungen

Im Wintersemester 2007/2008 wurde das von der FH Giessen-Friedberg geförderte Projekt „Unternehmenstheater als Lehrmethode zur Simulation betrieblicher Entscheidungssituationen und zur Entwicklung betrieblicher Rollenverständnisse“ erstmalig und mit großem Erfolg im Rahmen der Lehrveranstaltung „Branchen- und Funktionscontrolling“ im Studiengang „Master of Arts Unternehmensführung“ umgesetzt. Vorgesehen ist, diese Lehrmethode auch künftig im selben Modul und darüber hinaus in Kürze auch im grundständigen Bereich, etwa im Modul Kostenmanagement des Diplom-/Bachelor-Studienganges BWL, anzuwenden.

Nach meinem Kenntnisstand hatte das Projekt Pilotcharakter. Zwar gibt es unter der Überschrift „Theater in der Hochschuldidaktik“ seit geraumer Zeit Initiativen in der Lehre. Die hierbei entstandenen Lehransätze haben jedoch eine deutlich andere Ausrichtung. Die bisherigen Arbeiten, die sich unter „Theater in der Hochschullehre“ subsumieren lassen, zielen vornehmlich auf die folgenden beiden „Stoßrichtungen“ ab: 1.) Qualifizierung des Lehrenden in bezug auf Rhetorik, Gestik/Mimik, Stimme etc.; 2.) Qualifizierung der Studierenden in bezug auf die Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten, Sozialkompetenz, Umgang miteinander etc., vor allem also auf die Vermittlung von „Soft Skills“. Es werden Erkenntnisse, Erfahrungen, Methoden der Inszenierung und Dramaturgie für derartige Qualifizierungen genutzt.

Der Ansatz, den ich im Gegensatz dazu mit Unternehmenstheater – zunächst in Zusammenarbeit mit einer Regisseurin – verfolge, hat einen anderen Fokus. Ich möchte nicht unmittelbar, sondern mittelbar „Theater“ in der Hochschullehre einsetzen. Damit meine ich, dass ich nicht direkt einen „Link“ von betriebswirtschaftlichen Problemen zur „Theaterwissenschaft im allgemeinen“ versuche herzustellen. Es soll vielmehr ein bereits etablierter betriebswirtschaftlicher Forschungsstrang, nämlich „Unternehmenstheater“, nunmehr auch für die Hochschullehre genutzt werden, ein Strang, der in der betrieblichen Beratungspraxis schon umfassende Erfolge bei der Lösung betriebswirtschaftlicher Probleme vorweisen kann. 

Mir ging es bei Einsatz von Unternehmenstheater in der Lehre insofern auch nicht so sehr um die Vermittlung von Soft Skills, sondern um das Trainieren von "Hard Skills" in betrieblichen Simulationen mit Studierenden. Sie sollen Verständnis für die Verhaltensweisen von Managern unterschiedlicher betrieblicher Bereiche entwickeln. Daher ähnelte das Projekt weniger den bisherigen Ansätzen von "Theater in der Hochschuldidaktik", als schon eher dem klassischen Planspiel in der BWL.


Zu den Zielen der unternehmenstheaterunterstützten Hochschullehre zählen: 

  • Klärung der folgenden grundlegenden Fragestellung: Wir wirken sich menschliche Verhaltensweisen auf die Steuerung von Unternehmen aus?
  • Die Studierenden sollen ein Bewusstsein für die funktionalen Zusammenhänge bekommen und in die Lage versetzt werden, Konflikte, die aus dem multifunktionalen betrieblichen Gefüge entstehen, zu erkennen und im Interesse der Unternehmensziele zu lösen.
  • Die Studierenden sollen sich ihrer künftigen Rolle im Unternehmen bewusst werden und die eigene Verantwortung und Handlungsspielräume spürend erkennen.
  • Motivation durch Rollenspiele und dem Erleben der eigenen Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten.
  • Die bisherigen Lehrveranstaltungen sollen durch eine besonders aktivierende Lernform, indem Studierende selbst als Manager agieren, angereichert werden.
  • Der Lehrende soll Erfahrung sammeln und didaktische Lerneffekte mit dieser doch recht ungewöhnlichen Lehrform erzielen.
  • Die Lernenden lernen, Verhaltensweisen der Mitarbeiter zu interpretieren.


Die Lehrkonzeption, die im folgenden näher erläutert wird, hatte folgenden Aufbau:

  • Einführung in das Thema "Unternehmenstheater".
  • Vorstellung der Lehrmethode und der Ziele; Klärung der Aufgabenstellung.
  • Kurzeinführung in Theaterarbeit; gruppendynamische Übungen; beispielhafte Rollenspiele aus den Betriebsalltag.
  • Zuordnung der Rollen an die Studierenden verbunden mit der Vergabe von rollenspezifischen Referatsthemen.
  • Recherche von Konfliktsituationen in Betrieben.
  • Erarbeitung von rollenspezifischen – fiktiven – Biographien durch die Studierenden zur Auseinandersetzung mit den jeweils zugeordneten Rollen.
  • Sukzessives gemeinsames Erarbeiten eines offenen Drehbuchs (im Hintergrund durch Regisseurteam4) auf der Basis der erarbeiteten und vorgetragenen Referate.
  • Präsentation des Drehbuches; Durchführung der Inszenierung durch die Studierenden im Rahmen eines Eintages-Workshops; szenenweise Anfertigung von Videoaufnahmen.
  • Bearbeitung des Videomaterials (im Hintergrund durch Regisseurteam); Zusammenfügen der einzelnen Szenen.
  • Vorstellung des Theaterstücks als Ganzes; Analyse der Rollen; Kritische Beurteilung des Ergebnisses; Ausgabe einer Teilnahmebestätigung.

Praktische Anwendung des Konzeptes; Erfahrungen

Im Rahmen der Lehrkonzeption ist das eigentliche Unternehmenstheater keine eigenständige Lehrveranstaltung an sich, sondern ist eingebettet in eine Vorlesung (im Projektfall war es "Branchen- und Funktionscontrolling"), in dessen Rahmen sukzessive auf die Theater-Inszenierung und damit auf ein Hineindenken in Rollen vorbereitet wird. Das Unternehmenstheater flankiert insofern die eigentliche Lehrveranstaltung.
Zu Beginn werden – nach Vorstellung des Ablaufs und der Ziele – Referatsthemen mit Rollenbezug vergeben. Beispielsweise arbeitet ein Studierender "A" ein Referat über aktuelle Probleme des Marketing-Controlling aus und ein anderer, "B", über Fertigungs-Controlling. Mit der Themenvergabe sind gleichzeitig die Theater-Rollen festgelegt: "A" ist Marketing-Leiter und "B" Fertigungsleiter. Alle geben sich nun neue – fremde – Namen und stellen Tischkarten mit Funktionsbezeichnung/Namen auf den Tisch. Sie gelten fortan als fachlicher Ansprechpartner zu ihren jeweiligen Themen im Rahmen der dann beginnenden Lehrveranstaltung.

Dann folgt eine Kurzeinführung in die Theaterarbeit. Die Studierenden lernen Methoden der Theaterpraxis kennen, die ihnen helfen, sich rasch in eine fremde Rolle hineinzubegeben, sich mit einer Rolle zu identifizieren. Einige Übungen werden durchgeführt.

Der nächste Schritt umfasst die Recherche betrieblicher Konfliktsituationen aus eigener Erfahrung oder aus sonstigen Quellen. Im Zuge der dann folgenden Wochen ist dann begleitend zur Lehrveranstaltung jeweils eine Biographie über die zu spielende Person von jedem Teilnehmer anzufertigen. Sie sollen sich dadurch intensiv mit der Rolle vertraut machen. Hierzu erhalten die Studierenden einen Leitfaden. Ansonsten sind sie frei in der Gestaltung der Biographie und damit auch in der Festlegung der wesentlichen Charakterzüge der von ihnen zu spielenden Person. Ferner erarbeiten die Studierenden typische Rollen von Entscheidungsträgern unterschiedlicher Funktionsbereiche (insbes. typische Verhaltensweisen, Denkweisen und charakterliche Merkmale). Auch diese Ergebnisse fließen sodann in die Drehbucherstellung mit ein. 
Auf der Grundlage der verfassten Biographien und der präsentierten und schriftlich vorgelegten Referate wird dann eine Grob-Handlung des Theaterstückes durch das Regisseur-Team verfasst.

Der Regisseur stellt nun den Studierenden die Grob-Handlung des Stückes vor. Sie sollen sie verinnerlichen. Nahezu zeitgleich wird das offene Drehbuch verfasst, das "offene" Detailhandlungen und Sprechtexte, also nicht in sich abgeschlossene umfasst, sodass die Studierenden einen großen Freiheitsgrad zur Improvisation erhalten. Dieses Drehbuch wird erst unmittelbar vor der Inszenierung präsentiert, um dadurch ein Maximum an Spontanität zu ermöglichen.

Mit Präsentation des Drehbuches und intensiver Besprechung der Inhalte beginnt dann im Rahmen eines Eintages-Workshop die Inszenierung, die durch den Regisseur gesteuert und den Kameramann aufgenommen wird. Einige Impressionen sind weiter unten aufgeführt.

Im Anschluss an die Inszenierung (Dauer im Pilotprojekt: etwa 8 Stunden) werden dann die Videofragmente zu einem in sich geschlossenen Theaterstück verarbeitet, das darauf als Grundlage für die Analyse des Stückes dient. Basis für Letztgenanntes ist ein Analysefragebogen. Zum Ende erhalten die Teilnehmer ein Teilnahmezertifikat, das als Teilnahme- und Leistungsanreiz fungierte, da eine Benotung aufgrund der nicht möglichen Abgrenzung von Einsatz, Leistungsfähigkeit und schauspielerischem Talent ausschied.
Ergebnise aus dem Pilotprojekt

Die Studierenden beurteilten ausnahmslos das Pilotprojekt als sehr gelungen. Sie würden es sehr begrüßen, wenn diese Methode regelmäßig im Rahmen der BWL-Hochschulausbildung eingesetzt werden würde. Alle Teilnehmenden berichteten von umfassenden Lerneffekten hinsichtlich des funktionsübergreifenden Verständnisses betrieblicher Probleme und der Möglichkeiten, sich in Rollen anderer Personen hineinzuversetzen. Insgesamt wurde Unternehmenstheater als Lehrmethode als sehr geeignet angesehen. 

Aufgrund des vergleichsweise relativ großen Vorbereitungsaufwandes, der mit zunehmender Teilnehmerzahl wächst, stößt die Methode m.E. an ihre Kapazitätsgrenze bei Gruppengrößen größer 30 (dann mit drei Parallelinszenierungen).